Ein Tag mit einem autistisch gehandicapten Kind oder warum ich mein Kind nicht aus den Augen lassen kann

Benedikt muss um 6:30 Uhr aufstehen.
Aufgrund seiner extremen motorischen Schwierigkeiten braucht Ben sehr viel Unterstützung bei sämtlichen Verrichtungen. Hierbei helfe ich ihm per Handführung mittels „Affolter-Technik“, nicht zu verwechseln mit der „Gestützten Kommunikation“ („Facilitated Communication“). Ich bemühe mich bei der Erziehung um ein hohes Maß an Selbständigkeitstraining, wobei dann alles doppelt und dreifach solange dauert, wie ohne Benedikts Mithilfe. Eigentlich muss ich immer präsent sein, d.h. immer bereit sein zu helfen oder einzugreifen. Ich kann nicht einmal guten Gewissens aus dem Zimmer gehen bzw. mich entfernen, da Ben Gefahren nicht einschätzen kann und sich unvermutet in gefährliche Situationen begibt.
Ein Beispiel: Als ich einmal aus dem Wohnzimmer ging, zog Benedikt unseren uralten, wuchtigen Fernseher aus der dafür vorgesehenen Nische unseres Wohnzimmerschrankes (Foto). Als er im Begriff war, diesen schweren Kasten auf seine Beine herunterzuziehen, kam ich gerade noch rechtzeitig dazu, um dies zu verhindern.

Auch ist es erforderlich, bei den Mahlzeiten anwesend zu sein. Da er auch hier manchmal Unsinn treibt, muss Ben dabei beaufsichtigt werden. Beispielsweise isst er auch schon mal eine Banane mitsamt der Schale. Vor dem Essen einer Banane, schälen wir sie normalerweise gemeinsam ab, dann gebe ich sie ihm mit der Schale in die Hand, damit er abbeißen kann. Einmal ging ich währenddessen kurz aus der Küche, als ich wiederkam, hatte er die Banane mitsamt der Schale vertilgt. Einige Zeit vorher hatte er mir denselben „Streich“ während einer Autofahrt gespielt. Damals fragte ich mich, was ihm denn da für ein schwarz brauner Brei aus dem Mund auf seinen Pulli, seine Hose und auf das Autopolster lief, bis mir klar wurde, was es war. Da ich ihm eindringlich erklärt hatte, dass man die Bananenschale nicht essen kann, dachte ich mir eigentlich, dass er das verinnerlicht hätte. Dem war wohl nicht so! Es war auch nicht von ihm zu erfahren, warum er die Schale mitaß.

Beim Toilettentraining sollte man tunlichst ebenfalls immer dabei sein. Auch hier gibt es vieles, was eine große Faszination auf ihn ausübt. Das Harmloseste ist, dass er gerne das Toilettenpapier abrollt, verteilt und sich in den Mund steckt. Auch schaut er fasziniert in die Toilettenschüssel, bei laufender Toilettenspülung wohlverstanden.
Dem Einfallsreichtum unseres Juniors im Erfinden neuer Beschäftigungsmethoden, -therapien für Mama sind keine Grenzen gesetzt.

Nun mal Spaß beiseite, ich muss Ben also immer Hilfestellung bei allen Verrichtungen anbieten bzw. geben und ihn entweder immer beaufsichtigen oder aber die Folgen (mangelnder Beaufsichtigung)  tragen.
So ist die Zeit mit ihm ausgefüllt und ich kann mich keiner Arbeit konzentriert widmen bzw. sie zu Ende führen. Die Zeit, in der er nicht zuhause ist, versuche ich zu nutzen, um die Hausarbeit einerseits und sonstige liegengebliebene Arbeiten, wie z.B. Bürotätigkeiten andererseits,zu erledigen.
Wie man sich lebhaft vorstellen kann, kommt bei mir nie Langeweile auf. Ich nehme an, dass sich so manche Mutter eines „frühkindlichen Autisten“ in meinen Ausführungen wiederfindet. Zum Trost sei all diesen Müttern gesagt, es ergeht uns allen ähnlich!
Zum Verständnis: All diese skurrilen Verhaltensweisen sind seiner veränderten Wahrnehmung geschuldet. Würden wir in seiner Haut stecken, würden wir uns vermutlich genau so verhalten. Auch wir würden wahrscheinlich Bananenschalen essen, um uns im Mund besser zu spüren. Wir empfänden es wahrscheinlich auch faszinierend, die Toilettenspülung aus nächster Nähe zu betrachten.
Wenn sich jemand gefragt haben sollte, wie eine nicht mehr voll berufstätige Mutter eines frühkindlichen Autisten, ihren Tag verbringt – Hier ist die Antwort.

Dr. Sabine Regn-Poertzel

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